Ist Berlin unregierbar? Versagen die alten demokratischen Instrumente? Wird der politische Diskurs von den Fake-News in den Sozialen Netzwerken erschlagen? Drei Fragen, die beliebig erweiterbar wären, Sorgen, die man und frau sich um die Zukunft unserer demokratischen Kultur machen dürfen – vielleicht sogar machen müssen.
Das Schauspiel, das gegenwärtig im Berliner Regierungsviertel aufgeführt wird, ist ein trefflicher Hinweis darauf, dass Sorgen um die politische Stabilität dieses Landes nicht aus der Luft gegriffen sind. Während in der Vergangenheit der Ruf einer regierungsbildenden Fraktion an den Kabinettstisch in Windeseile erwidert wurde, scheint er in diesen Tagen dem Marschbefehl an Bord einer Galeere gleichzukommen. Sicher nicht ganz unberechtigt zierten sich die FDP und jetzt auch die Sozialdemokraten, als Juniorpartner der Regierung beizutreten. Zu oft haben in der Vergangenheit die Wähler den kleineren Partnern in Koalitionen ihre Regierungsbeteiligung verübelt und am nächsten Wahltag eine Quittung ausgestellt, der als Denkzettel warnend an den Parteizentralen hängt.
Die Parteien, einst unumstrittene Herrscher unseres parlamentarischen Systems, sind verunsichert. Die alten Milieus, in denen man zielgenau für alles, was der politische Alltag so hergibt, seine Absolution erbeten konnte, sind pulverisiert. Wahlentscheidungen mit komplexen Bindungen gehören der Vergangenheit an. Wer nicht 1:1 das umsetzt, was der Wähler mit dem Kreuz auf dem Wahlzettel verlangt, ist ein Verräter und Wert, beim nächsten Urnengang abgestraft zu werden.
Der Kompromiss, die DNA eines parlamentarischen und demokratischen Systems, das auch den Interessensausgleich ins Visier nimmt, wird als Umfallerpolitik diffamiert. Auch wenn Du nur mit einem 9% Wählervotum ausstaffiert wurdest, erwarten die eignen Anhänger die Durchsetzung der reinen Lehre. Der Schwanz habe gefälligst mit dem Dackel zu wedeln.
Die Verunsicherung der Parteien ist verständlich, weil offensichtlich der Verfassungsauftrag des Artikels 21 zunehmend schwer erfüllbar ist, im Osten ohnehin, wo Parteiphobien als Erblast der einstigen Allmacht der SED immer noch Teil der politischen DNA sind. Alle etablierten Parteien habe es sich in dem System aber auch reichlich bequem gemacht, kaum eigene Ideen in die Fortschreibung demokratischer Strukturen eingebracht und vor allem milieubildende Gesellschaftsentwürfe dem Pragmatismus geopfert. Die Attraktivität populistischer, also auf gezielte Vereinfachung programmierte Parteien, nimmt zu. Was gestern noch undenkbar erschien, ist heute Teil dieser neuen politischen „Kultur“. Die AFD ist hierfür ein ebenso prägnantes Beispiel wie ein ungarischer Regierungschef, der nicht einmal davor zurückschreckt mit Hilfe von Verschwörungstheoretikern und UFO-Hellsehern den politischen Gegner zu diskreditieren. Der niederländische Politologe Maurice De Hond konstatiert, dass unsere politischen Systeme in Zeitlupe unterzugehen drohen. Und er erntet Hilflosigkeit.
Dabei könnten Demoraten die Krise der Demokratie auch als Chance begreifen. Nie bleibt etwas wie es war und nur wer dieser Gesetzesmäßigkeit mit Beharrungsvermögen begegnet, verliert. Die Demokratie, auch unsere parlamentarische, muss neu gedacht werden. Das geht auch ohne Änderung des Grundgesetzes.
Hört auf, in den strengen Kategorien von Regierung und Opposition zu denken. Nehmt jeden Abgeordneten, jede Fraktion im Bundestag in die Pflicht. Denkt mal darüber nach, ob Koalitionen wirklich ein Eheversprechen auf Zeit sein müssen? Kann der Seitensprung nicht auch stabilisierende Wirkung entfalten? Reicht es nicht aus, dass man sich auf Eckpunkte einigt, wenige Projekte beschreibt und dann um jede Reform kämpft und für jedes Reförmchen um Mehrheiten streitet, mit denen, die vermeintlich Koalitionäre sind wie denen, die vermeintlich auf den harten Oppositionsbänken sitzen. Zwingt alle demokratischen Repräsentanten dazu, ihr Verhalten, notfalls tagtäglich, ihrer Basis, Ihren Wählern zu erläutern.
Ich finde das klingt wie eine höchst lebendige Demokratie, vielleicht ein bisschen idealistisch, aber auf jeden Fall realistischer als jede Form des „Weiter So“.
Weitere Beiträge zu dem Thema: Nach Jamaika-Schiffbruch – Wohin geht die Reise?